Das Da Draußen
Schon die letzte, von Kathrin Rhomberg vor zwei Jahren kuratierte Berlin Biennale hatte sich an dem versucht, was draußen wartet. Getragen von einer neugierig gestimmten Sehnsucht nach Wirklichkeit eröffnete dieser tastende Versuch, aus einem als selbstbezüglich vermuteten Kunstsystem herauszutreten, seinerzeit die Frage, ob sich inmitten der Bildmächtigkeit und Bilderfülle, die unsere Medien unablässig produzieren, Wirklichkeit und ein kritischer Blick auf die Verhältnisse, die sie begründen, überhaupt noch herstellen lasse. In dieser Fragestellung lag auch eine zaghafte, fast zögernde Unsicherheit über die Befähigung der Kunst, unsere disparate Wirklichkeit noch sichtbar machen zu können, die in eine Versuchsanordnung über Kunst überführt wurde, deren Sucht und Suche nach ihrem Außen sie als ihr Ansporn und ewiges Dilemma begleitet.
Diesen Umweg über die ästhetische Vermittlungsinstanz, den alle Kunst zu gehen hat, will sich das Kuratorenteam der gegenwärtig stattfindenden 7. Berlin Biennale unter der Leitung des polnischen Künstlers Artur Zmijewski zugunsten einer direkten Einwirkung in die Sphäre des Politischen einsparen. Schon im Titel setzt ihre therapeutische Kulturdiagnostik nicht erst an einer noch zu beschreibenden Verunsicherung unserer Weltbezüge an, sondern gleich an deren symptomatischem Gegenstück, den affektiven Übertreibungen der permanenten Angst, die unsere globalisierten Gesellschaften zersetzt, ordnet und verwaltet. Forget Fear will diesen omnipräsenten Affekt des medialisierten Kapitalismus produktiv machen und kennt dabei ein klar definiertes Etappenziel: die zeitgenössische Kunst zum Werkzeug einer wirksamen Politik umschmieden!
Eine verlassene Zeltstadt der Wut: occupy-camp im Bauch der KunstWerke:

Tatwerkzeug Kunst
Um die politischen Ambitionen der Ausstellungsmacher offensichtlich werden zu lassen, wurde als unverzügliche und alternativlose Erstmaßnahme im Bauch der Biennale der Hauptausstellungsraum der KunstWerke für die organisierte Gegenöffentlichkeit frei geräumt, um dort eine Art Occupy in residence aufzuschlagen. Im Hof der KW finden sich unterdessen zwei Hollocausterinnerungsbirken aus Birkenau mit einen palästinensischen Key of return zu einem fragwürdigem tête à tête zusammen. In der südlichen Friedrichstraße wurde eine Peace Wall der innerstädtischen Segregation errichtet, die nun nach massiven Anwohnerprotesten wohl vorzeitig abgebaut werden wird. Im Treptower Park soll die Schlacht um Berlin zum Zweck der Völkerverständigung nachgespielt werden. Kongresse vor allem haben Hochkonjunktur auf dieser Biennale: In der Elisabethkirche findet während der gesamten Ausstellungsdauer ein Draftsmen‘s Congress statt, im Hebbeltheater wurde der Erste internationale Kongress des Jewish Renaissance-Movement mit neototalitärem Pomp inszeniert, und der New World Summit versuchte sich an einem alternativen Parlament staatskritischer bis terrorverdächtigter Organisationen. Mit der Aktion Deutschland schafft es ab sollten umstrittene Sarrazinbücher dem Markt entzogen werden, und nebenbei unterhält die Biennale auch A Gentrification Programm im Kongo während sie sich daheim um die künsterische Aufarbeitung des mexikanischen Drogenkrieges kümmert.
Obwohl ganz und gar unvollständig, wird allein an den aufgezählten Projekten überdeutlich, dass von den Akteuren dieser Biennale ein agitatorischer Impuls ausgeht. Kunst soll sich wieder politisch engagieren, soll mit der Macht der ihr eigenen Mittel Erinnerungspolitik beeinflussen und auf allen gesellschaftlichen Ebenen Transformationsprozesse bewirken. Das maßgebliche, von den Kuratoren selbst als simpel bezeichnete Konzept zielt tieffliegend auf eine zielgerichtete Kunst, „die tatsächlich wirksam ist, Realität beeinflusst und einen Raum öffnet, in dem Politik stattfinden kann.“


Dabei wird mit einem erstaunlichen Zwang zum Unverzüglichen eine Direktheit der Tat beschworen, die in marxistischer Wendung Welt nicht mehr nur interpretieren, sondern sofort und schnörkellos verändern will. Die Kunst ist hierfür Tatwerkzeug.
Was aber ist von diesem wütenden Morgenappell an eine vermeintlich schläfrig gewordene Kunstszene zu halten? Von diesem unmissverständlichen Aufruf, die Hypnose des großen Tieres zu verlassen, sich einem Gegenimperium der Schwachen, Ungehörten und Benachteiligten anzuschließen und ihre politische Praxis zu erneuern? Was ist damit gewonnen, eine ohnehin rahmenerprobte und überschreitungswillige Kunstpraxis politisch übermotiviert in ihre Selbstaufhebung zu zwingen? Und selbst wenn die Kunst nichts mehr als das will, kann es ihr gelingen, aus sich selbst auszutreten, indem sie politische Tat wird?
Oder ist Kunst nicht darin politischer als jede Politik, dass sie zum Widerstand gegen den Fatalismus des Tatsächlichen erzieht? Dass sie wider jede Verdinglichung zugriffsbereiter Vermarktung, aber auch wider jede inhaltsfromme Korsettierung und reideologisierende Vermagdung ihre Eigenständigkeit behauptet? Und dass ihre Aktualität ausgerechnet im Unzeitgemäßen erscheint? Und formt sie nicht ständig neue Landschaften, neue Territorien aus dem unausschöpfbaren Feld gegenseitiger Einflussnahmen von Kunst und Leben? Und ist es nicht ihre größte Radikalität, sich selbst zu sagen?
Ist nicht das ihre Tat? Ist nicht etwa das ihre Politik?


Stimmungslagen im Spektakel
Den explosiven Zug zu den Fahnen politischer Bewaffnung umweht ein so verführerischer Duft, weil er auf einem allgegenwärtigen diffusen Unbehagen am Zustand unserer krisendurchsetzten und in jeglicher Hinsicht übersättigten Scheinwirklichkeit aufbauen kann. Wer wollte nicht schon immer einmal den großen Schwungrädern des Spektakels entkommen sein. Nichts ist so selbstverständlich geworden wie die massenmediale
Litanei des Katastrophischen, in der der Zustand der Welt noch immer genug Anlass zur hemmungslosen Sorge gab. Gleichzeitig ist kaum etwas weniger verständlich als der Wunsch, durch politisches Handeln der allgegenwärtigen gesellschaftlichen Ohnmacht, der unterschwelligen Nervösität angesichts sozialer, ökologischer und ökonomischer Krisen zu entgehen. Verständlich deshalb, weil in der Handlungswirklichkeit des Engagements auch die tiefsitzenden Zweifel an dem, was an unserer Wirklichkeit überhaupt noch wirklich ist, erfolgreich erledigt werden können. Die Krise verleiht nicht allein Flügel, ihr entwächst auch die Empörungsbereitschaft wirklichkeitsformender Fäuste.
Widerspruchsgeist und Unzufriedenheit, schrieb der Kunsthistoriker Edgar Wind einmal in seiner bekannten Vortragsreihe Kunst und Anarchie, seien die Schutzgeister der Künste.
Als solche begleiteten sie die gewaltigen Triebkkräfte der Phantasie, vor deren Gestaltungsmacht schon Platon sein puristisches Staatsgebilde lieber schützen wollte, weil er den epidemischen Imaginationskäften mißtraute. Der abendländische Staatsgedanke organisiert sich seit der Antike um die visionäre Scheidung von Sein und Erscheinung. Ebenso eng wie mit dieser Erkenntniskraft des richtigen Sehens ist die staatskörperliche Praxis als formbares Sozialgebilde aber auch mit dem plastischen Gestaltungsvermögen des Kunstwerkes verknüpft gewesen.
Moderne und postmoderne Gesellschaftskritiken haben in ihren Zeitdiagnosen vielfach die bewußtseinssteuernde Funktion überwiegend entkörperlichter Imaginationssysteme bei der wirkungsvoll optimierten Organisation herrschender Gesellschaftsstrukturen hervorgehoben. Massenmedial beschleunigte Fiktionalität formt mit diffusen Trennkräften und mit aufsehenerregender Bindungsmacht die Evolution gesellschaftlicher Entfremdung aus. In der Rede vom universalen Verblendungszusammenhang oder von der Gesellschaft des Spektakels zeigt sich dieser Prozeß als eine Theatralik des Sichtbaren, dessen hypnotische Geschlossenheit die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse so umfassend durchdringt, dass aus ihrem Bannkreis allein deshalb kaum aufzutauchen ist, weil es in ihm kein Außen mehr gibt.
Gibt es einen Ausgang aus den publikumswirksamen Scheinwirklichkeiten des alltäglich Ungewöhnlichen? Kann die Wut der Vielen schöpferische Gestaltungskräfte bei der Wiedergeburt des Gesellschaftskritischen entwickeln, deren lebensverändernde Maßnahmen über den Status eventemotionaler Ersatzbefriedigungen hinaus gehen?
Oder wohnen wir bei dieser Biennale nur der erneuerten Aufteilung der Welt in Verblendungszusammenhangsblinde und Verblendungszusammenhangsdurchschauer bei?

Das Werk in der Krise
Bekanntlich behielt es Adorno dem Kunstwerk vor, den von ihm so bezeichneten universalen Verblendungszusammenhang zu durchstoßen.
Doch die Kritik, die die diesjährige Biennaleleitung dem Kunstsystem, das sie im Kreislauf seiner Selbstreproduktion gefangen sieht, entgegen wirft, läßt keinen Zweifel daran, dass sie dem Kunstwerk einen kritischen oder subversiven Akt keineswegs mehr zutraut. Sie sieht auch die Kunst selbst als elaborierten Teil eben jener spektakulären Ordnung, mit der Guy Debord unsere konsumhedonistische Entertainment-Gesellschaft bereits 1967 beschrieben hatte. Sie wertet damit den Kunstbetrieb als elitäre Sonderform der Kulturindustrie. Unausgesprochen folgt sie hier der Rede von der hypnotischen Wirkung eines falschen Bewußtseins und der gesellschaftlichen Organisation der Lähmung von Geschichte und Gedächtnis, dem sich auch die zeitgenössischen Künstler nicht zu entwinden vermögen, weil sie dem elitären Spektakel des Kunstbetriebes unterworfen seien.
In der Ordnung des Spektakels wird alles zur Ware. Und angesichts exotischer Auswüchse des Kunstmarktes bei Hirst, Koons oder Murakami kann man – in Anlehnung an Guy Debords These 34 – tatsächlich davon sprechen, dass sich im Spektakel des Kunstmarktes das Kapital in einem solchen Grad akkumuliert, dass es zur Kunstware wird.
Der kunstbezogene Werkbegriff ist längst ein elastischer Leitrahmen, dessen Vermögen in seiner selbstkritischen Refexivität gründet. Warum also jedem Werk den heillosen Übertritt zur Warenform unterstellen? Und ist es im Gegensatz zur bloßen Kunstware nicht die Fähigkeit von Kunst, indem sie das Aporetische wagt, ihren Warencharakter zu überschreiten?

Die Eliminierung des Zuschauers
Eine der ideengeschichtlich wirksamsten Thesen Debords ist die von der Entfremdung des passiven Zuschauers (je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er), der sich in seinem Wünschen und Begehren über sich selbst täuscht, folglich von sich selbst getrennt ist. Auch die Kuratoren der Berlin Biennale wollen die Kunst aus einer unterstellten sicheren Distanz und ihre Zuschauer aus der leblosen Passivität herausholen, indem sie angeben, das Publikum aufzuheben und es zu Beteiligten zu machen. In diesem Bestreben, die Beteiligten aus ihren Rollengefängnissen zu befreien, bezieht sich die Co-Kuratorin Joanna Warsza auf Allan Kaprow aus dem gleichen Zeitgeist wie die Gesellschaft des Spektakels entstandener Essay Notes on the Elimination of the Audience.
Unterschlägt eine solche Argumentation nicht aber, dass ich gerade, weil ich die Rolle eines Zuschauers annehme, nicht auf diese festgelegt bin? Und bin ich als Betrachter nicht immer schon als Beteiligter angerufen? Und als beteiligter Betrachter mitunter handelnder als in der Blindheit einfachen Mittuns? Schreiben sich unter dem Vorsatz, diese aufzulösen, hier nicht überkommene Ordnungen des Denkens in Aktivität/Passivität, Handeln/Empfangen, Kunst/Zuschauer, Nähe/Distanz fort? Wird damit nicht das bezwingendste Moment von Kunst – ihre lebendige Eigenwirksamkeit – verdrängt? Und schließlich: warum sollte die Eliminierung des Zuschauers und seine Umformung zum Beteiligten ausgerechnet an einem etablierten Kunst-Ort/Event wie der Berlin Biennale dem Spektakel entgehen?

Anarchopoetische Strategien der Subversion
Um die (kunst-)politische Tragweite dieses Projektes nachzuvollziehen, wird man nicht umhin kommen, das Territorium linker Ideologie zu meditieren. Besonders Theorie und Praxis des Anarchismus erscheinen vor dem Hintergrund unserer Gegenwart, auf den sich diese Biennale so unvermittelt wie selten zu beziehen versucht, mit gegenöffentlichen Organisationsformen – mit Attac, Occupy, Piraten & Co – wieder eine aktuelle Gestalt zu gewinnen. Schon 1965 hat Daniel Guérin die antibürokratischen, autoritätskritischen und staatsskeptischen Motive als nicht zuletzt auch antisozialistische Grundmotive des Anarchismus beschrieben. Er stellte dabei als dessen zwei Energiequellen dem unteilbaren Selbstbehauptungswillen radikaliberalisierter Individuen die Spontaneität der Massen als Komplementär zur Seite. Dieser flexible, bindungsfreie aber dennoch kollektivorientierte Grundzug der anarchistischen Idee ist es, der sie zum heimlichen Gesicht unserer Zeit macht.

Nur diese dem anarchistischen Geist auch heute noch inhärente Gegenzüglichkeit bewahrt den unbedingten Repolitisierungswillen dieser Biennale vor einer umfassenden dogmatischen Erstarrung. In ihrer Aktionspraxis schließt sie sich an Lettristen und Situationistische Internationale, an Spontibewegung, Kommunikationsguerilla und Hackerkultur an. So breitet die Biennale einen anarchopoetischen Strategieapparat aus relationalen, kollaborativen und performativen Ansätzen, aus Subversion und politischem Aktivismus, aus mind mapping, cultural hacking, re-enactment und artist-research aus, der mit eingeübten Rhetoriken der zeitgenössischen Kunstproduktion, mit der Rhetorik des Archivs, der Dokumentation und der Vernetzung kombiniert ist.
Subversive Strategien zeigen ihre Stärke, wenn sie aus der Anonymität heraus agieren. Besonders dann, wenn es ihnen gelingt, eine vermeintlich sichergeglaubte Wirklichkeit zu irritieren, indem aus dem Nichts heraus das Unerwartete in die Geschlossenheit eines gewohnten Weltzusammenhangs einbricht. Im institutionalsierten Rahmen der zeitgenössischen Kunst, in dem das Unerwartete erwartet wird, verdampfen diese Interferenzeffekte, zumal gerade vom jungen Biennale Publikum anzunehmen ist, dass es durch seine popkulturelle Praxis ebenso umfassend in die beweglichen Subversionen im Reich der Zeichen eingeübt sein dürfte wie in die etablierten Formen der Protestkultur.
Kunst als revolutionäre Praxis ist Teil der Popkultur. Diese Biennale ist kein Bürgerkrieg. Sie ist die Aufführung einer Lebensform.
Wer aus der Kunst austreten will, kann immer noch Schachspieler oder Waffenschieber werden. Vielleicht aber auch nicht einmal mehr das.
Das ästhetische Regime und die Fragwürdigkeit des Realen
In Frankreich wurde zuletzt eine vergleichbare Debatte zwischen dem Kuratoren Nicolas Bourriaud und dem Philosphen Jacques Rancière teilweise erbittert geführt. Es geht dabei um nichts weniger als um eine Grundlagenbestimmung der zeitgenössischen Kunst, um das richtige Verständnis ihrer Darstellungsformen und um eine Kritik des Feldes, in dem sie erscheint. Relationale Kunst verabschiedet das autonome Kunstwerk und ersetzt es durch Demonstrationen, verschiedene Typen von Zusammenarbeit zwischen Personen, durch Spiele, Feste, Orte der Geselligkeit (…) und die Erfindung von Beziehungen, so Bourriaud. In diesen Projetkformen sieht er temporäre Mikro-Utopien, die die Herrschaft des Spektakels punktuell unterlaufen.
Rancière hat trotz der theoretischen Beflissenheit dieser Ansätze in ihnen naives Wunschdenken, zahlreiche Selbstwidersprüchlichkeiten und eine umfassende Betriebsblindheit gegenüber dem ausgemacht, was er das ästhetische Regime nennt. Dessen stärkste historische Errungenschaft sieht er gerade im ästhetischen Distanzraum, der dem Agierenden ebenso wie dem emanzipierten Zuschauer als unbeteiligt Beteiligtem ermöglicht, das Sagbare, Denkbare und Machbare zu durchdringen und neu zu verteilen.
Das ästhetische Regime ist eine Bühne radikaler Autonomie, die sich auch dafür verantwortlich zeigt, dass ein occupy camp auf einer Kunstbiennale etwas anderes, wenn nicht sogar das Gegenteil von dem wird, was es schon auf der Wall Street bloß denkt zu sein. So wird man diese Biennale mit Rancière fragen können, inwieweit kritische, kollaborative und relationale Absichten im institutionalisierten Rahmen des Ausstellungsbetriebs nicht zur rhetorischen Geste erstarren. Und ob die gewünschten Wirksamkeiten nicht verfehlt werden, weil sie tatsächlich in Scheinbefriedungen stecken bleiben. Weder entkommt diese Berlin Biennale dem ästhetischen Regime der Kunst, indem sie als Gegenmänover im symbolischen Raum Fragmente des Realen implementiert, noch entkommt sie dem Spektakel, das sie zu durchkreuzen versucht.
Ihr fragwürdigstes Anliegen wird aber laut in ihrem unverstellten Ruf nach Wirklichkeit, in deren Gravitationsfeld sie Kunst und Geschichte zurückführen will. Problematisch ist dies allein schon, weil sie diese begrifflich unproblematisiert läßt. Dabei hat sich in die Geschichte und in unser Wirklichkeits- und Selbstverständnis eine unaufhebbare Skepsis gegenüber der Festigkeit der Welt zutiefst eingegraben, was an den fluidalen Praktiken und medialen Handhabungen auch auf der Biennale erkennbar bleibt. Ihr ganzes theoretisches und performatives Gebilde spielt auf dem konstitutiven Gegensatz von Wirklichkeit und Erscheinung, den sie erzeugt, indem sie ihn verleugnet. Allein die vagen Vergegenwärtigungstrategien entferntester Ungerechtigkeiten scheitern schon darin, dass in ihnen Wahrnehmungs-, Entrüstungs- und Handlungskreis zutiefst dissoziert sind. Von ungeteilter Wirklichkeit keine Spur. Im Gegenteil: selbstverständlich wird in Scheinwelten, in einem hochartifiziellen Informations- und Symbolkosmos operiert, ohne dass deren Herstellung hinterfragt oder in durchdrungener Formgebung gebunden wären.
Wenn den bloßen Trennungspolemiken des entfremdeten Menschen entgangen werden soll, ist dies nicht mit einer Politik der Distanzaufhebung zu haben. Wir leben inmitten einer Verunsicherung von Welt- und Sinnbezügen, die uns selbst zu einer umgebungsstumpfen, komplexen Relation des Bezugslosen macht. Gerade deshalb ist die Erfahrbarkeit von Wirklichem - von dem wir nie wissen können, was es ist und allenfalls erfahren, was es nicht mehr ist – im Spiel der Distanzräume, in der Öffnung auf Fremderfahrung, die mehr sind als Klischees, und einer tiefen Solidarität mit sich selbst zu erproben.
Die falsche Logik des Direkten und die Unerlässlichkeit der Kunst
Es ist ein bemerkenswertes, notwendiges und möglicherweise auch überfälliges Vorhaben, die Trennlinien von Sozialem, Politischem und Kunst wieder durchlässiger werden zu lassen, um eine Verschränkung im Tatsächlichen zu erproben und den geschichtsoffenen Prozess der Kultur zu revitalisieren. Die auf dieser Berlin Biennale verfolgte Logik des Direkten führt dieses Projekt unvermittelt eher in eine bedienungsfreundliche Pädagogik der Verdummung: zu vieles an ihr zeigt mir, was ich zu sehen habe. Zu vieles ist harmlos in seiner Eindeutigkeit, epigonal im Idiom, trotzig im Gutgemeinten. In ihrer werkkritschen und pointenlosen Kunstfreiheit demonstriert diese Biennale zudem eine bedenkenswerte Anfälligkeit für Polit-Kitsch und Zynismus. Wo sie Streitbarkeiten provozieren will, verfängt sie sich in Pseudoskandalen. Was von ihr aber dennoch ausstrahlt, ist der verfängliche Charme des Tatkräftigen, dem nur mit uneingeschränktem Zaudern zu begegnen ist.
Wechseln wir also das Gesprächsthema, schweigen wir über Gewohntes, über Abseitiges im Nebensächlichen, widerstehen wir dem Druck zum Handeln. Verzögern wir.
Was wir brauchen, sind die paradoxen Wege des Indirekten und – nach einer Einsicht Jean Cocteaus – eine Kunst, die unerlässlich bleibt. Selbst wenn man nicht weiß, wofür.
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© Copyright für Text & Abbildungen liegt bei Sven Grünwitzky / qjubes
FORGET FEAR | 7. Berlin Biennale für zeitgenössische Kunst
noch bis zum 01.07.2012
KW Institute for Contemporary Art
Auguststraße 69
10117 Berlin
Öffnungszeiten: Täglich von 10 bis 20 Uhr