Ein Essay zu Martin Honert anläßlich der Ausstellung “Martin Honert. Kinderkreuzzug” im Hamburger Bahnhof | Berlin (7. Oktober 2012 bis 7. April 2013).
Das Kind begeistert die Welt. Mal verzaubert, ein anderes Mal verängstigt ist es ganz und gar in sie eingetaucht, unauflöslich mit ihr verbunden. Es steht in einem Zauberkreis, in dem die Trennschärfen der Rationalität ihr Werk noch nicht begonnen haben. Seine Welt ist voller Offenheit gegenüber dem unhinterfragt Tatsächlichen, prall an alltäglicher Absurdität und magischen Gewohnheiten. Eine unfertige Welt voller Sensationen des Augenblicks, voller Rätselhaftigkeit und Staunen, voller nomadischer Einbildungskraft. Selbst noch das Paradoxeste ist die kindliche Imagination stets bereit als das Gegebene anzunehmen, um daraus im nächsten Moment eine neue Welt zu formen.Doch was bleibt von diesen imaginativen Fähigkeiten des Kindes, wenn es nicht mehr Kind ist? Was überdauert aus dieser Kindheit als Erinnerung? Und wie persönlich ist, was uns als vertrauter Erinnerungsrest biographisch auszuzeichnen scheint. Anders herum gefragt, welche Erinnerungsgegenstände, Erfahrungsmomente und Gedächtnisräume sind es, die uns als soziale und kulturelle Lebensformen mit anderen verbinden? Sind unsere persönlichen Erinnerungen tatsächlich so konsistent, wie sie uns in einem ersten unkritischen Zugriff auf die innere Kontinuität unseres Selbst und die ureigenste Autorität der Selbstbezeugung des eigenen Erlebens erscheinen? Oder zeichnen sie sich ganz im Gegenteil gerade darin aus, nur nachträglich und notdüftig zum identitätsbildenden Narrativ zusammengeflickt zu sein: Wie fremdkonstituiert sind die Eigenheiten meiner Geschichte? Und überhaupt: wo sind sie eigentlich, diese Erinnerungen, die ausgelöst durch einen Geruch, einen Geschmack, eine Bewegung, ein unscheinbares Ding so beiläufig und überraschend aus längst verschütteten Archiven, aus dem scheinbaren Nichts der Vergessenheit wieder emportauchen können?
In der Haupthalle des Hamburger Bahnhofs stellt das Museum für Gegenwart mit Martin Honert zur Zeit einen Gegenwartskünstler aus dem Umfeld der Düsseldorfer Schule vor, dessen Erinnerungspräparate das Museum in ein Spielzeugwunderland verwandelt haben. Das begrenzte Inventar eines nachkriegsdeutschen Kinderzimmers gerät dabei zur Wunderkammer des biographisch archäologisierenden Künstlers. Allüberall Riesenspielzeug und Erinnerungsmodelle, als deren Erinnerungssubjekt der Künstler mitzuhalluzinieren ist, eben nicht allein als Produzent der Kunstwerke, sondern als derjenige, dessen Kindheitsphantasien der Besucher in Form seiner zumeist dreidimensionalen Objekte vergegenwärtigt bekommt. Martin Honerts persönliche Erinnerungsreise wird dabei zu einem Parcours der Illusionstechniken und medialen Transformationen, in dem die Fragmente seiner Kindheit sich zu einem Spiegelkabinett des Erinnerns formieren, in dem Phantasie und Erinnerungsarbeit amalgamiert sind. Die Welt also ein Spiel. Der Künstler – ein Kind?

Kinderkreuzzug oder die falsche Fährte
Martin Honerts Kunst achtet unaufhörlich auf den Sound distanzierter Infantilität. Dabei agiert er als Infanterist auf den Kreuzzügen durch die eigene Kindheit. Gewappnet für das Gefecht, aber stets in der Lage, unaufgeregt auf das Wesentliche der motivischen Situation zu reduzieren. Die Erlebniswelt des Kindes ist sein Gegenstand. An seiner Arbeit selbst klebt hingegen nichts Kindliches, schon gar nicht auf der Ebene einer häufig und gerne mit Kunst und Kind verschnürten ursprünglichen Kreativität. In ihrer suggestiven Anonymität und emotionalen Sachlichkeit kühlt die überbetonte Künstlichkeit seiner Kunst den Zauber und die Magie der kindlichen Weltaneignung so herunter, dass Honerts Objekte gegen empathische Vereinnahmung durch eine kalkulierte Aura steriler Banalität geschützt bleiben. Ihr Geheimnis dagegen manifestiert sich in der Kombination des eigentlich Unkombinierbaren. Zumindestens unterläuft Honert im konzeptualisierten Umgang mit der eigenen Kindheitserinnerung die gewöhnlich für alles Biographische reservierte Geste des Authentischen. Bei der Inszenierung seiner Biographie dienen ihm Photos, Kinderzeichnungen, Kinderliteratur und prägende Alltagsgegenstände zwar als Ausgangsmaterial, nie sind diese aber als rohe oder fingierte Originaldokumente in die Inszenierung direkt mit einbezogen. Stattdessen unterzieht Honert diese Erinnerungsreferenzen einer aufwendigen künstlerischen Transformation, deren auffallendstes Merkmal – ihre geradezu traditionell handwerkliche und selbstgefertigte Herstellung – jedoch zugleich wieder in einer sachlich industriellen Materialikonographie getilgt ist. So greifen seine bildnerischen und bildhauerischen Experimente aus Epoxydharz, Polyester und anderen Kunststoffen in ihrer maßstabsgetreuen Modellhaftigkeit die massengesellschaftlichen Fertigungsweisen der Spielwarenindustrie auf, obwohl die Werke selbst elaborierte Einzelstücke sind. In diesem hybriden Produktionshintergrund formuliert sich ästhetisch, was auf der mnemotischen Ebene die Frage nach der Herkunft unserer eigenen Erinnerung, ihren prägenden Fremdelementen und kollektiven Stereotypen stellt.
Um nachzuvollziehen, wie konkret Martin Honert mit seinen Objekten Erinnerungsarbeit leistet, empfiehlt es sich den Ausstellungskatalog mit kurzen erklärenden Texten des Künstlers und aufschlussreichen Bilddokumenten wie Familienphotos und Kinderzeichnungen, wie etwa diejenige, die der raumfüllenden Installation Ritterschlacht (2004/2004) als Vorlage diente, zu Rate zu ziehen. Ohne diesen Vergleich mit dem Ausgangsmaterial, in dem zugleich die Differenz der künstlerischen Transformation markiert ist, fehlt der Betrachtung ein kaum verzichtbarer Bezugsanker und dem Verständnis eine Tiefendimension.
So greift die titelgebende Arbeit Kinderkreuzzug (1985/87) nur mittelbar auf das historische Ereignis des mittelalterlichen Kinderkreuzzuges zurück – und man imaginiere als Kontrastbild, wie Anselm Kiefer in diesen Jahren eine solche historische Quelle und besonders ihre mythologisch überhöhten Potentiale künstlerisch verarbeitet hätte. Nichts davon in der Spielzeugvariante Honerts. Das liegt schlicht daran, dass sein Bezugspunkt für diese Darstellung nicht die geschichtswissenschaftlich umstrittene deutsch-französische Pilgerbewegung aus dem Frühjahr 1212 ist, sondern ein nicht näher zu bestimmender westdeutscher Schulalltag Anfang der Sechziger Jahre, an dem der Geschichtslehrer des Künstlers den Kinderkreuzzug zum Unterrichtsthema erhob, aber jede weitere Ausführung des Sujets mit dem Verweis auf angebliche Unzumutbarkeit zurückwies – und damit exakt jene Tatsachen- und Erwartungslücke aufreißen ließ, in die sich die kindliche Phantasie des jungen Martin waghalsig hineinstürzen konnte: Ich sah mit einem Male die Wandtafel als ein offenes Fenster mit Blick auf eine hügelige Landschaft. In der Ferne kam allmählich ein großer Zug von Kinderrittern immer näher, bis ihre Anführer in den Klassenraum zu treten schienen. Honerts privatanekdotische Darstellung versucht genau jenes magische Imaginationsbild zu verkörpern, das ihm als Junge einst im Geschichtunterricht vor Augen schwebte. Es ist die Realität des Kindes, die er in den Blick nimmt. Und es ist der Kinderweltblick, in dem Wirklichkeit und Phantasie mühelos verschmelzen, den er in seiner Arbeit einzufangen sucht. Dabei kann es auch passieren, dass ein frappierender Moment mittelalterlicher Sozialgeschichte vollständig in der vorgefertigten Spielzeugwelt des Kindes verschwindet.

Wackelpudding der Erinnerung
Honert betont, dass es für ihn wichtig sei herauszufinden, was an dem, das zurückliegt, für ihn noch immer Bestand als Erinnerungsbild habe. Um eine solche kritische Revision der die Zeit überdauernden Erinnerungsmonumente und Gedächtnisbilder durchzuführen, kann eine sentimentale Dokumentation der eigenen Kindheit natürlich nicht genügen. Deshalb betreibt Honert eine akribisch detaillierte Rekonstruktion von Erinnerungsmomenten, die von der inneren Bildhaftigkeit seines persönlichen Erinnerungsvermögens ausgeht und sich gerade in der Abweichung von den originalen Dokumenten, Bildern, Dingen und Orten formuliert. Er rekonstruiert seine Bildgegenstände aus der Vergegenwärtigung des Erinnerten und Erlebten, indem er verdichtet, isoliert, verschiebt und verzerrt, ohne dass dies sofort ersichtlich wäre.
Seine dreidimensionalen Installationen und Objekte sind daher vor allem als Modelle verräumlichter und reinkorporierter Erinnerungsbilder aufzufassen, bei deren Nachbau immer auch ein Moment jener fabulös animistischen Halluzination, welche die Erlebniswelt des Kindes ausmacht, mit eingeschlossen ist.
Honert gelingt es in seinen überzeugendsten Arbeiten diesen nur schwer erschließbaren Erlebnishintergrund, dessen vitaler Widerschein die menschliche Erinnerung noch im Nacherleben begleitet, zuweilen geradezu magisch aufscheinen zu lassen. Seine bildliche Verdichtung setzt dabei an der häufig im Gewöhnlichsten eingenisteten Unwirklichkeit des Augenblickes an. Dort, wo Welt alltäglich als unverstandene und vorbewußte Bezugsfülle gegenwärtig ist. Ist es die Magie des Anfangs oder die Melancholie des unwiederholbar verlorenen Augenblickes, die in dem changierenden Spiel aus detailgetreuem Modellbau und surrealer Hintergründigkeit verantwortlich ist für den gefühlten Abgrund an Unsicherheit und Ungreifbarkeit, den diese so banal daherkommenden Objekte wie eine verborgene List bei sich führen.
Wie eine medientechnische Allegorie dieser Labilität der Sinne, der Wackligkeit menschlicher Erfahrung und Erinnerung kommt auch Wackelbilder, Herr der Fliegen (1995) daher, deren prismenartige Oberfläche für den blickwinkelabhängigen Bildwechsel sorgen: Das plötzliche Umkippen erzeugt nicht nur die optische Illusion von Dreidimensionalität und Bewegung, sondern gibt auch eine zunächst unerwartete Perspektive in einem zweiten, vorher verborgenem Bild frei.
Unübertroffen erscheint diese Strategie der Verunsicherung in der frühen Arbeit Tisch mit Wackelpudding, Roter Polsterstuhl (1983) – und zwar in jenem irritierenden Moment, wenn der giftgrüne Wackelpudding im Museum tatsächlich zu wackeln beginnt, weil ein kleiner in ein Tischbein integrierter Motor diesen erzittern läßt und der Wackelpudding seiner wackeligen Natur gemäß eine Weile nachbebt. In diesem reduzierten Mobiliar aus Tisch, Stuhl und Wackelpudding ist die Erinnerung an die Internatzeit des Künstlers in den 60er Jahren in Ostwestfalen kondensiert. Die in Sitzfläche und Rückenlehne eingearbeiteten Neonlampen lassen das transparente Polystrol von innen her rot erglühen und simulieren so eine unwirklich leuchtende Polsterung, die wie der Rest der interieurhaft zusammengestellten Objekte ganz an das Design der Zeit angelehnt ist. Mit minimalen Interventionen in die nachgebauten Versatzstücke historischer Dingwelt rückt Honert so die Kunsterfahrung von der vermeintlichen Wirklichkeit ab und nötigt uns dazu, gewohnte Schablonen des Denkens, Wahrnehmens und Erinnerns zu hinterfragen, wenn uns die Sicherheit und Stabilität des Sichtbaren überraschend entgleitet.
Spätestens seit der Sekunde, als eine in Tee getunkte Madeleine den Proustschen Gaumen berührte, um aus dem unvergleichlichen Geruch des Tees und dem Geschmack des aufgeweichten kleinen Sandtörtchens ein weltliterarisches Gebäude des Erinnerns aufzurichten, ist bekannt, dass es gerade die unwillkürlichen Sinnesassoziationen sind, die uns Erinnerung wiederfinden lassen. Indes benötigen wir keine Weißdornbüsche, Teetassen aus Porzellan und französisches Gebäck, um die Kindheit am Kleinsten, Unaufdringlichsten und Beiläufigsten mnemotechnisch zu entzünden. Auch mediokre Erinnerungszeichen der Kindheit und Jugend, wie wir sie alle in uns tragen, die Wackelpuddinge, Schwimmabzeichen und Plastikritter, können erinnerungsauslösend wirksam werden. Jede Kindheit kennt so ihren eigenen tief eingelassenen Sinnes- und Erfahungsrahmen: unauslöschlich bestimmte Gerüche, längst vergessene Geschmäcker, überraschend detailgenau eingeprägte Orte, Dinge, die im Aussenraum der Wirklichkeit unser Altern überdauerten, oder Dinge unserer Jugend, die ohne unser Wissen längst verschwanden – all dies ist in der Textur der Erinnerung aufs Engste miteinander verbunden.
Gelegentlich nimmt die Aussenwelt unerwartet Einfluss auf unsere Erinnerungsbildung, wenn wir an einen vertrauten Orte unserer Kindheit zurückkehren oder ein Ding wie ein Stück vergangener Wirklichkeit uns aus der Zeit entgegenragt. In ihrer Beständigkeit sind die Dinge dann wie eine Nabelschnur in die Vergangenheit. Auf genau solchen Gedächtnisgrundlagen aufbauend verdichtet Honert seine erinnerten Kindheitserlebnisse zu kunstfertig nachgebauten Zeichen und Modellen. Frei-, Fahrten- und Jugendschwimmerabzeichen (1986) etwa aggregiert in diesem Sinn Schwimmabzeichen und Fliesenmosaik zu wagenradgroßen Wandobjekten, die als Symbol- und Erinnerungskonserve mindestens eine ganze Schwimmbadwelt in sich tragen.
Proust‘sche Verklärung geht der Kindheitserinnerungspflege der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeneration dabei völlig ab. Ästhetisch sachgerecht, von klinischer Künstlichkeit industrieller Massenware und manchmal beklemmender Banalität ist das Honertsche Kindheitsuniversum. Eine Apotheose des Durchschnittlichen. Oder wie Honert selbst die Aufgabe von deren Wiedergabe formuliert: Heraushebungen des Unauffälligen.

Foto. Feuer. Fata Morgana. Über das Einfrieren des bewegten Moments
1990 wurde das photographische Werk von Bernd und Hilla Becher in Venedig mit dem Goldenen Löwen für Skulptur ausgezeichnet. Nimmt man diesen gattungspezifischen Salto mortale der damaligen Jury auf, so könnte man Martin Honert ohne größere Bedenken jederzeit auch mit einem Preis für Photographie ehren. Denn zweifellos reicht deren tiefenstrukturelle Bedeutung als technisches apriori über die bloße Verwendung einzelner Photos aus dem Familienalbum weit hinaus.
Schon in den 70erJahren hatte die Kunsthistorikerin Rosalinde Krauss ausgehend von der Indexikalität des Photographischen diese zum allgemeinen Funktionsmodell für die innere Logik der zeitgenössischen Kunstproduktion erhoben. Wie in den frühen Tagen der Photographiegeschichte sah auch sie in der automatischen Ausschließung des von Absicht und Gedächtnis getragenen menschlichen Bedeutungs- und Gestaltungswillens die Überlegenheit dieses technisch-optischen Mediums. Seine mechanisch-objektivierte Wirklichkeitstreue bei der Speicherung und Wiedergabe des Sichtbaren setzte neue Ideale der Abbildung und Ähnlichkeit, der Sachgerechtheit und Objektivität, die diese wiederum über den genuin dokumentarischen Status hinaus zu einem bis heute maßgeblichen, mittlerweile eigenständigen und von seinen ursprünglichen Verhaftungen beinahe losgelösten Idiom der Kunst reifen ließ. Bei aller spielzeughaften Plastiklastigkeit, bei aller Kinderseligkeit und autobiographischen Unterfütterung bleibt daher dieses trockene Moment des Dokumentarischen, Sachlichen, Neutralen, Anonymen, Reproduzierbaren, welches die dreidimensionalen Objekte von Martin Honert als Abbildungsidiom des Photographischen unterschwellig durchdringt.
In manchen seiner Arbeiten, besonders aber in Haus (1998) scheinen dem Betrachter sogar die photographierenden Kollegen der Düsseldorfer Schule entgegenzublinzeln. Honert führt uns vor Augen, dass Photographie nicht nur in Malerei, sondern auch in dreidimensionale Bildwelt übertragbar ist. In der Arbeit Foto (1993) stützt sich die Darstellung des kleinen Jungen, der einsam an einem zu großen Tisch sitzt, auf ein Familienfoto. Auf diesem sieht man die gesamte Familie bei der erwartungsfrohen Inszenierung einer zu dieser Zeit noch prestigeträchtigen und in jedem Fall erinnerungswürdigen Urlaubsplanung am hauseigenen Küchentisch, während der kleine Martin als einziger das gespielte Spiel nicht versteht und stattdessen in die spiegelnde Kameralinse stiert. Aus dieser Vorlage schält Honert den aus seiner Sicht zu beschreibenden Erlebniskern nachträglich heraus, indem er fast den gesamten Bildinhalt tilgt und so einen faszinierenden Augenblick exemplarischer Kindereinsamkeit geschaffen hat. Die tatsächliche Erfahrung des kleinen Jungen ist damit adäquater beschrieben als es die objektivierende Familiengeschichtsschreibung der selbstauslösenden Kamera je könnte. Es ist eine späte Rache des Künstlers an der unbestechlichen Macht der optischen Maschine, welche seinen neugierigen Blick in die Linse zum ewigen Augenblick eines unverstandenen Familienspiels verkehrt, dass er die zweidimensionalen Schatteneffekte der Photographie genau so, wie sie im Original zu sehen sind, seinem plastischen Selbstporträt ins Gesicht gemalt hat. Er überträgt damit die Signatur des Ausgangsmediums als Fehlfarbe und übercodierte Störinformation in die neue Form, obwohl die Plastizität des Objektes naturgemäß für eigenkörperliche Schatten sorgt, auch ohne dass sie dabei auf Malerei zurückgreifen müsste, die Photographie simuliert.
Als ironisches Spiel mit den Grenzen der Medialität unterläuft Honert so immer wieder auf vielfältige Weise jede mediale Routiniertheit. Auch in der jüngeren Arbeit Klassenfoto (2008/2009), deren Photographie tatsächlich ein Filmloop ist, bei dessen Entstehung alle Beteiligten angewiesen waren, sich wie in der Anfangszeit der Lichtbildtechnik während der Aufnahme nicht zu bewegen, folgt diesem mediensubversiven Interesse. Die Minimalisierung der abgebildeten Bewegung erzeugt dabei einen erstaunlichen Überschuss an Wahrnehmungsbewegung des Betrachters, der die gesetzte Bewegungsirritation wieder in das gewohnte Wahrnehmungsfeld zurück zu holen strebt.
Jede Illusion braucht ein doppeltes Gerüst, das sie aufrecht erhält. Ein technisches Gerüst auf der Produktionsseite und ein Routinegerüst auf der Rezeptionsseite.
Aus der körperlichen Wirklichkeit von Honerts dreidimensionalen Objekten entspringt eine zeichenhafte wie zeichnisgleiche Bildlichkeit, in welche die Erscheinungsbedingungen und Darstellungsmodalitäten optischer Illusionsmedien mit eingespielt sind. Aus seinem weitreichenden Repertoire an solchen Techniken – aus Photographie, Film, Laterna Magica, Wackelbildern – gewinnt Honert eine auf den ersten Blick kaum erkennbare und daher umso erstaunlichere Facettierung und Ausweitung des Skulpturalen.
Am Ende geht es dabei auch immer wie in Fata Morgana (1996) um den Anteil des Imaginären und des Phantasmatischen an unserem Erleben, Wahrnehmen und Erinnern. Und um die künstlerische Schwierigkeit, Unsichtbares oder Unfassbares in eine feste und anschauliche Gestalt der Sichtbarkeit zu überführen, ohne dabei das Sich-Entziehende als jenes Moment aufzugeben, in dem Wahrnehmen und Erinnern im Versuch ihrer Fixierung scheitern. Je näher das Erscheinungsgebilde rückt, desto angestrengter ist man versucht, das sich Auflösende aus der Unschärfe des Verschwindenden zurückzuholen. Luftiger, durchsichtiger wird die Fata Morgana und verschwimmt endgültig in der Enttäuschung.
Diese stupende Doppelbewegung: festhalten zu wollen und gleichzeitig die Wiedergabe lebendig zu halten, um die Sinne und den Geist im Spiel von Simulation und Dissimulation zu überzeugen, war seit je eine hohe Hürde für die Kunstfertigkeit der Kunst bei der angestrebten Imitation des Lebens. Entrinnendes zu bewahren, Flüchtigem eine feste Gestalt zu geben, Bewegtes einzufrieren, ohne dabei im ästhetischen Kältetod zu erstarren. Im stillgestellten Augenblick von 22:22 (1992) oder dem Einfrieren von Feuer (1992) spricht bei Honert das Unbewegte seiner Artefakte von eben jener Dialektik aus Erstarrung und Verlebendigung, die das Photographische gebannt verfolgt, die vor allem aber alles menschliche Erinnern und Wahrnehmen immer wieder aufs Neueste und bei Martin Honert auch aufs Spielerischste bewegt.

♦♦♦
Martin Honert: Kinderkreuzzug
bis zum 07. April 2013
Hamburger Bahnhof | Museum für Gegenwart | Berlin
Invalidenstraße 50/51
10557 Berlin