Supersauber.
Superschön.

Alt Berlin ist tot.

Alt-Berlin-Smile

Montag morgens ist es wie immer in Mitte. Alles neu und nichts wie gestern. Alles sauber, alles schön. Die Müllabfuhr rollt heran und lärmt durch die Höfe. Schülertrupps entsteigen dem Untergrund, reißen ihre polternden Rollkoffer übers Pflaster, zerren sie notfalls gegen den Widerstand der steinernen Schweinebäuche mit Gewalt hinter sich her. Nur die holprige Unvollkommenheit der Gehwege erinnert an Berlin. Der Himmel strahlt. Blau, wie sonst. Nicht ein einziger hat seinen Rollkoffer in Spanien vergessen. Egal wohin sie gehen, in jeder Himmelsrichtung wird sie am Ende der Straße ein freundliches Hostel empfangen. Gegenüber debattieren einige ältere britische Frühaufsteher, wo wohl der richtige Weg zum Hackeschen Markt zu finden sei und wo entlang man hier zum Alexanderplatz komme. Schnieke, die Herrschaften. Doch trotz tiefstechender Blicke scheint ihnen der Stadtplan nicht weiterhelfen zu wollen. God save the Queen! Englisch ist Pflichtsprache für Einheimische. Also, no problem. Der Berliner bildet sich gerne fort. Romanische und asiatische Sprachen helfen im übrigen auch allen weiter. Schließlich sind wir nun alle Berlin. Dem Bürgermeister sei’s gedankt. Wohlfühlen sollen sich alle, denn Wohlfühlen ist Hauptstadtsache, und nur wenn du dich wohl fühlst, sind die Menschen auch freundlich zu dir. Die Berliner Gastfreundschaft zahlt sich nun aus. Ruppige Berliner Schnauzen findet man deshalb nur noch am Stadtrand, angeblich auch mal in Kreuzberg oder als Lokalkolorit auf Niedriglohnbasis im Nicolaiviertel. Ob man es glaubt oder nicht, noch immer schütten da täglich westdeutsche Rentnerbusse ihre Ladung in die nachgebaute Zille-Zone. Seit Jahren war da auf der anderen Seite vom Alex keiner mehr, denn ich kenne.
Über die Münzstraße rollt jetzt eine Fahrradkolonne mit knall-orangenen Leuchtleibchen heran. Die bauen sich da auf dem Gehweg auf und bilden eine lustige Touristentraube. So viele junge, interessierte Menschen aus der ganzen Welt. Die wollen etwas wissen von unserer Stadt, wie das hier mal so war früher. Und aus ihrem Zentrum heraus gestikuliert ihnen ihr Führer vor, wie jüdisch dieses Scheunenviertel war, und dass dann ein Krieg kam und wie böse die Deutschen damals waren, und dann kam da eine Mauer, die eigentlich keiner bauen wollte, und irgendwann sind die Deutschen dann völlig unerwartet nett geworden und Berlin wurde zur bunten Partyhauptstadt mit einem schwulen Bürgermeister an der Spitze. Bis zuletzt – so erzählt er vermutlich – haben hippe Einheimische hier in der Nähe noch ihr Bier getrunken. You know, this famous german beer. Und bis vor kurzem wurde hier noch mit Kohle geheizt. Leider müssen die jungen Leute auch gleich schon weiter, denn sie müssen schließlich noch die Gipsstraße runter und in die Auguststraße rein, zu Clärchen’s Ballhaus. Da gibt es auch was zu sehen und zu erzählen und vielleicht auch gleich eine Pizza zum Mittag. Ehrlich gesagt – fällt mir jetzt auf – eine Schrippe verlangt beim Bäcker hier diesseits vom Alex auch schon lange keiner mehr.
Apropos Alex: nicht erst seit gestern fragt sich jeder, der mal länger als drei Tage in Berlin war, was da eigentlich alle wollen. Pass ma uff Keule, da jibt es nüscht zu kieken! Wieso begreift das keiner. Wieso ist niemand in der Lage, die völlige Abwesenheit von Anziehungskraft zu erkennen. Nichts als postsozialistische Ödnis, veredelt mit Saturn und Kaufhof. Zu wenig Politur, um zu glänzen, schon zu aufgehübscht, um im Trostlosen charmant zu sein. Aber bald will so ein amerikanischer Starbaumeister da einen Luxuswohnturm hinstellen. Das könnte lustig werden. Was die dann für einen tollen Blick haben, wenn sie so von da oben runter gucken auf den weiten zugigen Platz, mit all dem Menschengewimmel. Und dann die niedlichen Büdchen und die Wurstverkäufer zwischendrin. Pittoresk. Und Amüsemante gibt es da schon lange noch und nöcher rund um die Weltzeituhr. Ja, immerzu die gleiche Festzeltliturgie. Aufbauen, abbauen. Abbauen, aufbauen. Aufbauen, abbauen. So geht Metropole.
Die schicken Frühaufsteher an der Ecke diskutieren immer noch. Vielleicht wollen sie sich noch ein paar Stunden die Zeit vertreiben, bis die Flagships und Pop-up Stores entlang der Alten Schönhauser, entlang der Münzstraße, entlang der Weinmeister, entlang der Neuen Schönhauser endlich öffnen. Ganz Mitte ist Kulisse, beautiful für FiIm und Fernsehen und für die größte aller Daily Soaps: dem falschen Leben. Seit gestern übrigens ist das Alt Berlin tot.

***

Nach, so ließt man heute, 121 Jahren ist Ende, Aus, Feierabend für eine Bierstube, die allabendlich randvoll war. Sogar der Brecht soll da auf dem Hocker am Tresen gesessen haben. Der liebe Bert. Was der wohl so erzählt haben mag. So ein wenig Mäcki Messer und Seeräuberjenny war es ja schon, das gute alte Alt-Berlin. Und selbst der Franz Biberkopf hat bei Gelegenheit sicherlich mal irgendwann vorbeigeschaut und von Mieze und vom Alex geplaudert. Im tiefsten Kneipendunkel, klar, da saß man gern, weil die im Dunklen, sagte wer, die sieht man nicht. Und wer wollte hier von draußen gesehen werden. In zweifelhaften Zuständen half zur Not auch der Schutz der Theke über das Schlimmste hinweg. Das Alt-Berlin, das war ein literarischer Ort, real wie jede bessere Legende. Ein Lokal, das schnell zur Heimat wurde für viele. Für die, von überallher, und für die, die schon immer hier wohnten. Ein seltener, familiärer Ort, einer von jenen, bei denen es manchmal schon reicht zu wissen, dass es sie gibt. Einfach Kneipe, einfach wild, einfach gut. Sol-Eier, Schmalzstulle und Knacker gab‘s noch zur späten Stunde selbst für den letzten Hipster. Wer hier im Allerheiligsten fotografieren wollte, handelte sich unversehens Ärger mit dem Barmann ein, der wie eine tätowierte Schutzmantelmadonna seine Stammgäste und die dunkle Aura des Ortes vor dem grellen Licht und der aufdringlichen Schnappschussheiterkeit der touristischen Meute bewahrte. Respekt von dem Unreproduzierbaren, bitte schön.
Ganz früher als Heinz und Inge noch hinterm Tresen den schnellen Schluck ausschenkten, war das Alt Berlin mit seinem ganzen musealen Wirtshausplunder, seinen Butzenscheiben und seiner Holztäfelung so unverfälscht, dass alles Originale daran unerkannt blieb. Nur die Allereingefleischtesten pichelten da mal bis in die Puppen. Bald schon hatte jeder Wochentag im Kiez eine halblegale Bar. Das war als die Straße runter, um die Ecke im Burger, noch Kaffee-Komplett und Fürst-Pückler-Eis im Aluschälchen mit Papiersonnenschirm von einer sauber frisierten Dame mit Rüschenschürze und Häubchen serviert wurde. Das war lange vor etepetete und bevor Madonna im Burger auffiel und die Tanzwirtschaft eine der internationalen Jugend bekannte, aber lausige location wurde und lange bevor wir erfuhren, was pub-crawling meint. Alles war arm damals in Berlin und nichts daran war sexy. Die Sommer auf den Dächern waren endlos. Und vielleicht nie war Berlin dem Himmel so nah. Die Neue Schönhauser war tagsüber menschenleer und nachts stockfinster, denn nicht einmal das verzauberte gelbliche Ostlicht der Gaslaternen flackerte dort. Wir aßen Erbsenpüree und Buletten, Kartoffeln mit Quark, und schöne Menschen gab es auch nicht. Melancholisch und einsam lag Mitte in der Mitte der großen Stadt, grau und bleiern vor Geschichte. Es war eine verwunschene, aus allen Zeiten gefallene Stadt.
Das Erwachen kam, wie es kommen musste, und es dauerte länger, als viele erwartet hatten. Menschen und Orte kamen und gingen. Die Oma, die früher ihre Geranien im Hinterhof früh um Achte goss, wurde umgesiedelt, und der Tiger-Bernde aus dem Hinterhaus, der immer so schön lauthals brüllte, wenn er besoffen seine Rede ans Vorderhaus hielt, war auch irgendwann verschwunden. Eine Bar schloss, eine anderer Club machte auf. Das Karussell kreiste und die Karawane zog weiter. Man begann alles passender zu machen, und als dann das Mitte der Nachwendejahre nach und nach wegbrach, wurde das Alt Berlin zum festen und angesagten Stützpunkt, zu einem nächtlichen Anker, auch für alle Gestrandeten.
Irgendwann schlug einem plötzlich das eigene Leben als Bierwerbung und Morgenpost entgegen. Berlin ist, wenn man sich’s überall schön macht. Baugerüst hin oder her. Mitte war jetzt geschmackvoll. Prost! Kein Klischee hatte hier zu kurze Beine. Nach den Steinen der Stadt wurde nun auch das Lebensgefühl okkupiert. Das Zeug, das man ab und zu trank und die Zeitung, die man unter keinen Umständen las, gaben die Bilder und Slogans aus, nach dem nun alle Welt hier zu suchen schien, und das doch von der Stadt, in der ich einmal lebte, unendlich weit entfernt blieb. Nur dass eben alles diesen synthetischen Träumen des fluiden, kommerziellen Regimes immer ähnlicher wurde, auch wenn nur wenige es zu merken schienen. Das neue Lifestyle-Mitte ist so schön supersauber, weil die ganze Welt das Gleiche träumt. Berlin, du bist so wunderbar!
Zuletzt schien mitten in diesem glänzenden Strömen des kommerziellen Fortschritts auch der letzte Rest Alt-Berlin ein wenig verloren, – eine kleine schummrige und schrammelige Schultheiss-Trutzburg inmitten eines aufgeplusterten Hipster-Booms, umspült von Schuhmode und Frozen Yogurth. Doch noch immer ging davon etwas Tröstendes aus. Nun kam das endgültige Ende fürs Echte im Kiez, als mehr oder weniger erwartbarer, mehr oder weniger angekündigter, schneller Heldentod im Kampf gegen einen Hamburger Investor, der auch nichts anderes macht, als den letzten, rauchigen, rüden, rauhen Winkel von Mitte auszukärchern. Es ist ein symbolischer Tod, wie ein letzter Messerstich in einen längst leblosen Leib.

***

An ‘nem schönen blauen Sonntag war Schluss mit Alt-Berlin. Denn der Haifisch hatte Zähne und die trug er im Gesicht. Ein letzter schneller Schluck bei Heinz und Inge und danach nichts mehr als Trockenlegung für die einen und Trockenbau für die anderen.

Man hört, Mitte verliere sein Gesicht und einen Teil seiner Identität. Man liest, wer alles da war im Alt-Berlin. Man liest von kommerziellen Interessen, die die Stadt systematisch kaputt machten und der schleichenden Umwandlung des Urbanen in eine geleckte Shopping-Mall.

Aber nein. Jetzt, wo auch dieser Vorhang fällt, kann das alte Mitte endlich begraben werden. Es ist vorbei. Lassen wir es in Frieden ruhn. Lassen wir die Besucher aus aller Welt mit unserer Stadt allein. Schenken wir ihnen barrierefreien Zugang zu sämtlichen Ladengeschosszonen der Stadt. Heißen wir den endgültigen Konsum willkommen. Lieben wir das, was uns kaputt macht. Be H&M Berlin! Sie werden es uns danken. Wir nehmen Abschied und vielleicht ziehen wir weiter.

Das einzige was dieser Stadt noch helfen könnte, sind weitere fünfzig Jahre sozialistischer Verfall.

  1. Hendrik Jackson |

    einen weniger nostalgischen, angepassten Blick bietet auch der “Männer-versteher” Ralf Bönt hier:
    http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article125634146/Der-Kapitalismus-des-Ostens-ist-der-schlimmste.html

    als wir kamen, lieber sven, gingen die häuserbesetzer der 80-er. da hieß es, wie unpolitisch sind wir. das war deren nostalgie. blöd nur: die jetzigen höre ich nichts sagen. nur der ralf bönt, dass der kaffee nun besser sei und besser geheizt werde. wo sind denn die jungen hin, das wäre mal interessant. (und nostalgie ist, in maßen, unumgänglich)
    und ein letztes: wir sind jetzt wieder in der versprengung, der inneren emigration. die utopie, sei es realem aufbruch oder jugendlicher illusion geschuldet, währt immer nur einen moment. damals hätte auch niemand von utopie geredet. man war einfach mal an einem ort, wo es zumindest ansatzweise so war, wie es sein wollte. auch wenns nur eine enklave in der welt war.

    p.s. einen abgesang auf den p-berg gibt es demnächst auch auf lyrikkritik.de, die seite, die ab juni wieder starten soll