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LAGOS (schiebt seinen Kaffee beiseite): Lassen Sie uns an ein Thema anknüpfen, über das wir bereits einmal sprachen. Über Wege. Dieses Mal geht es nicht um die Wege des geringsten Widerstandes. Vielleicht ist das Wort Weg auch irreführend und sollte durch das Wort Route ersetzt werden. Sie haben ein Künstlerbuch unter dem Titel Routenplanung produziert. Was sind das für Routen, woher stammen die Zielorte?
PLÖGER: Jedes einzelne Ziel ist ein Ort, der mich aus irgendeinem Grund interessiert hat. Meist war es ein konkretes Ereignis, das dort stattgefunden hat. Es sind Orte, die in gewisser Weise aus dem Geschichtsbuch stammen. An denen Geschichte kulminierte. Es sind Orte, die mit einem bestimmten Ereignis oder einem bestimmten Bild im Kopf belegt sind.
LAGOS: Können Sie Beispiele nennen?
PLÖGER: Die Stelle, an der Kleist 1811 Selbstmord beging und sich heute noch sein Grab befindet, wäre ein Beispiel. Die Villa, in der die Wannsee-Konferenz stattfand, ein anderes. Beide übrigens nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Das Warschauer Ghetto befindet sich unter den Orten. Robben Island, wo Nelson Mandela gefangengehalten wurde. Tschernobyl. Pearl Harbor. Oder die Stelle, an der Albert Camus seinen tödlichen Autounfall hatte.
LAGOS: Manche dieser Orte habe ich in Ihrem Buch gar nicht gefunden.
PLÖGER: Zielpunkt sind immer konkrete Adressen. Aus denen geht dann die Bedeutung des Ortes nicht unbedingt hervor.
LAGOS: Woher stammen diese Routen?
PLÖGER: Aus dem Internet. Es gibt dort diverse Routenplaner, die sehr detaillierte Angaben machen. Ausgangspunkt war immer mein Wohnort in Berlin, bevorzugtes Fortbewegungsmittel das Auto.
LAGOS: Das Buch stellt also die genauen Autorouten zu den von Ihnen ausgewählten Schauplätzen dar.
PLÖGER: Ja. Es sind Schauplätze der Geschichte. Die Routen holen diese Orte zurück in die Realität. In eine Realität, die beinahe weh tut. Die Routen haben die Qualität einer technischen Zeichnung. Setz Dich ins Auto, halte Dich genau an die Wegbeschreibung und Du bist in der und der Zeit an diesem bestimmten Ort. Das historische Ereignis verliert seine Entrücktheit. Sie wird durch die reale Präsenz des Ortes attackiert.
LAGOS: Sind Sie die Routen selbst abgefahren?
PLÖGER (irritiert): Nein.
LAGOS (‘Schade, da hätte er mal was erlebt.’ Lagos überschlägt, wie lange Plöger wohl gebraucht hätte, um alle Orte abzufahren. Ein Jahr, vielleicht sogar mehr. Aber das hätte ihm imponiert. Ein Jahr reisen, Menschen treffen, Abenteuer erleben. Er weiß nicht genau warum, aber ohne diese Erlebnisse kommt ihm das Buch von Plöger seltsam hohl vor. Ein Konzept wie so viele andere. Ganz nett, ein bisschen schlau, aber hohl. Ohne innere Energie. Was wäre es für eine wunderbare Verschwendung gewesen, ein Jahr reisen, zigtausend Kilometer, all die Sinneseindrücke, hundert Seiten Reiseberichte, eine Festplatte voller Fotos, und am Ende nur dieses furztrockene Buch. Großartig!): Erwarten Sie vom Leser, das er das tut?
PLÖGER: Nein. Das Buch entfaltet durch seine eintönige Präzision der Wegbeschreibungen eine Stimmung, die verdeutlicht, dass all diese Orte vorhanden sind. Darum geht es. Die Orte sind erschlossen und für uns Zeitgenossen zugänglich. Sie haben nicht nur eine Vergangenheit, sondern ein Hier und Jetzt.
LAGOS: Zielen Sie auf ein verändertes Geschichtsbild ab?
PLÖGER: Ich bin kein Historiker. (hält kurz inne) Ich weiß noch nicht einmal, was für ein Geschichtsbild wir haben.
LAGOS: Sie wissen, wie die armen Leute reisen. Mit dem Finger auf der Landkarte. Ihr Buch nimmt das auf, aber Sie rauben die Illusion. Man denkt nur noch an Verkehrswege. Die Welt reduziert sich auf Überholspuren, Abfahrten und Knotenpunkte …
PLÖGER (unterbricht ihn): Aber am Ende stehen Sie an einer historischen Stätte. Das zieht Ihnen den vertrauten und immer gleichen Boden unter den Füßen weg.
LAGOS: Genau da bin ich mir nicht so sicher. In gewisser Weise negieren Sie die Besonderheit des Ortes. Die Aufgeladenheit ergibt sich ja nicht grundlos, sondern weil die geschichtliche Überlieferung sich eingebrannt hat. Im Buch werden die Orte austauschbar. Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass man eben überall hinfahren kann. Wir leben in einer Welt, die – zumindest für einige – vollkommene Bewegungsfreiheit garantiert. Die Erdoberfläche wird zum immer gleichen Koordinatensystem. Sie tun genau das Gegenteil der Geschichtsforschung, die versucht, Vergangenes lebendig zu halten. Sie erdrücken die Vergangenheit mit purer Gegenwart.
PLÖGER (energisch): Nein! Das Bild, das wir uns von vergangenen Ereignissen machen, bleibt ja lebendig. Es wird zusammengeführt mit der Präsenz des Ortes.
LAGOS: Deleuze liefert in seinem Buch Das Bewegungs-Bild/ Kino1 einen kurzen Abriss der menschlichen Wahrnehmung von Bewegung. Die Antike ging von einzelnen Posen aus, idealisierten Standbildern, wenn man so sagen kann. Bewegung fand nach damaliger Ansicht als Übergang von einer Pose zur anderen statt. Ein Mittel zum Zweck und für sich selbst nicht der Rede wert. Mit Newton lernte die Menschheit eine neue Formel. Bewegung wurde messbar und konnte beliebig in Intervalle zerlegt werden. Jeder Moment einer Bewegung konnte analytisch untersucht werden und war genauso wichtig oder unwichtig wie ihr Ausgangs- und Endpunkt.
Nehmen wir nun eine Taxierung Ihrer Arbeit vor, so frage ich mich, wie sie sich einordnen lässt. Die Routen spannen sich zwischen Ausgangs- und Zielort auf. Die Fortbewegung dient dazu, den Zielort zu erreichen. Sie ist Mittel zum Zweck, ganz im Sinne der antiken Auffassung von Bewegung. Ihr Buch hingegen suggeriert das Gegenteil. Start und Ziel treten zurück, erscheinen bedeutungslos. Die Bewegung erscheint als Selbstzweck. Sie reißen Kilometer runter, in km/h und Meter pro Sekunde. Wo verorten Sie die Arbeit?
PLÖGER: Es gefällt mir, wenn Sie mich dazwischen positionieren. Es ist ein Ort, den ich, manchmal bewusst, oft unbewusst, in meiner Arbeit anpeile. Nicht Fleisch und nicht Fisch. Im Grenzbereich gibt es keine klare Einordnung mehr.
LAGOS: Gestatten Sie mir zum Ende noch eine persönliche Frage. Mir ist aufgefallen, dass Sie bei jedem unserer Gespräche eine andere Haarfarbe trugen. Warum tun Sie das? (herausfordernd) Wollen Sie sich dadurch interessanter machen?
PLÖGER: Nein, der Grund ist rein politisch. Haarfarbe und Hautfarbe stehen für mich in einer direkten Verbindung. Sie sind wie der Zusammenklang von zwei Farben in einer abstrakten Komposition. Indem ich meine Haarfarbe wechsele, ändert sich auch meine Hautfarbe.