Was haben Massentourismus, Kunst und Kapitalismus gemein? Das Gallery Weekend scheint einige Aspekte dieser Frage aufzuwerfen und selbst zu beantworten. Kunst wird zum kommerziellen Event und zur besichtigungswerten Stadtdekoration, die für gutbürgerliche Touristen aus aller Welt das Lokalkolorit einiger Stadtbezirke und das Flanieren durch die Stadt attraktiver macht und zudem als Souvenir, Spekulations- und Prestigeobjekt mit nach Hause genommen werden kann. Das Gallery Weekend hat sich inzwischen fest etabliert und lebt nicht zuletzt von dem Ruf der Stadt, der ihm vorauseilt. Welche Rolle aber spielen die Kunst selbst, ihre Aussagen und Anregungen, ihr gesellschaftskritisches Potential? Nivelliert nicht bereits die massive kommerzielle Präsentation die Kraft und Einzigartigkeit der einzelnen Positionen? Das Ganze: Eine Parabel auf das richtige Leben im Falschen? Spielen Inhalte überhaupt eine Rolle? Alles kulminiert zum ausgehöhlten Imperativ: Kauft mehr Kunst! Andererseits: Kann der Hype dauerhaft bestehen, wenn die Qualität der gezeigten Kunst nicht stimmt? Muss dem Kunstmarkt, wie es Peter Weibel tat, der Krieg erklärt werden? Das klingt sehr pathetisch. Und zudem: ist Krieg die treffende Metapher? Wir bewegen uns jedenfalls in diesem Jahr etwas abseits der Kunsttouristenströme, ein paar verwinkelte Seitengassen und versteckte Hinterhöfe weiter, – die gibt es nicht nur in Venedig …
Wie man einen massentouristischen Hype auslöst, eine Creatio ex nihilo, läßt sich exemplarisch an der Videoarbeit THE MOST PHOTOGRAPHED MAN IN BERLIN des Multi-Media-Künstlers Clemens Wilhelm beobachten, die während des Gallery Weekends in seiner ersten Einzelausstellung in Berlin am Freitagabend erstmalig gezeigt wird. Ein mit Humor und sicherem Gespür für das Absurde inszeniertes Kabinettstück. Man muss kein Punk sein, mit rotem Irokesenschnitt und Sicherheitsnadeln in der Backe, um fotografiert zu werden. Der Berliner Künstler hatte sich, ganz banal und alltäglich, mit Jeans, T-Shirt und Sonnenbrille und dem schlichten Schild „THE MOST PHOTOGRAPHED MAN IN BERLIN“ auf einen Klappstuhl vor die East Side Gallery gesetzt und sich von und mit Touristen fotografieren lassen. Das experimentelle Kalkül einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, die zudem auf den Herdentrieb spekulierte, ging auf: innerhalb von zwei Monaten machten Touristen aus aller Welt mehr als 10.000 Fotos von sich und dem nun wahrscheinlich meistfotografierten Berliner. Die experimentelle Performance endete, als 1000 dieser Fotos auf einer eigens auf Facebook eingerichteten Site hochgeladen waren.

Dass Touristen und vielleicht nicht nur Touristen sich in künstlichen Welten bewegen, die fester Teil unserer Realität sind, zeigt auf ganz andere und eindrucksvolle Weise das Video SIMULACRA, das Clemens Wilhelm im dem chinesischen Entertainment-Park „Window of the World“ in Shenzhen aufnahm, in dem 140 der berühmtesten touristischen Sehenswürdigkeiten der Welt in verkleinertem Maßstab nachgebildet sind. Ihre Größe variiert je nach ihrer touristischen Bedeutung. Aber nicht nur die Welt ist auf ihre Hauptsehenswürdigkeiten komprimiert – der Eifelturm neben den Niagara-Fällen, die Freiheitsstatue neben den Gizeh-Pyramiden – auch die Zeit ist verdichtet: die Weltreise dauert keine Woche, sondern nur einen Tag und ist für jeden erschwinglich. Zu sehen ist in dem Video, unkommentiert und in traumhaft verlangsamtem Tempo, in Long-shots und Close-ups, das bunte Treiben der zahllosen Besucher des Parks, der inmitten riesiger Hochhäuser liegt. Modellhaft wiederholt sich im Kleinen das typische Verhalten der realen Weltreisenden. Absurde Momente chinesischer Touristen, die vor den verkleinerten Monumenten posieren, um dort ihre Hochzeiten zu feiern oder Feiertage zu krönen und vor allem besonders gelungene Fotos und Filme aufzunehmen. Das einzig Hyperreale dieser realen Welt der für uns hyperrealen Chinesen sind die gesattelten Kamele vor den Pyramiden und das Soft-Eis, das vor den verkleinerten Niagara-Fällen gechleckt wird. Das einzig Reale dieser irrealen Welt dagegen, das wahrhaft Dauernde, das allen Simulakren standhält und nicht so vergänglich ist, wie der momentane Genuss und das flüchtige Erleben, sind die Fotos und Filme, die nicht gelöscht, sondern unserem Gedächtnis und dem Gedächtnis des Netzes eingeschrieben wurden. Die Welten, in denen wir tagtäglich leben, sind längst durchfurcht und durchzogen von irrealen, fiktiven und hyperrealen Welten.
Was treibt Touristen an, bestimmte Orte zu besuchen? Welche Bedürfnisse stillen wir auf unseren Reisen? Gibt es Gemeinsamkeiten von Tourismus, Naturtourismus und Sextourismus? Ist die touristische Sicht auf die Welt eine pornographische, die nach simplen Mustern verläuft und schnell zu befriedigenden Höhepunkten giert? In dem Video THE TOURIST wird die erotische Aufladung touristischer Sehenswürdigkeiten, im Speziellen die sexuelle Aufladung ursprünglicher Naturlandschaften zum Thema. Die Befriedigung touristischer Sehnsüchte und Begierden nach unberührten Landschaften und der penetrierende Blick des Touristen werden ebenso wie die sinnlich-körperliche Erregung bei seinen naturbezogenen Aktivitäten persifliert. Alles scheint auf eins hinauszulaufen. So verwandeln sich unschuldige Landschaftsaufnahmen Islands unversehens in unverhohlene Pornographie.
Clemens Wilhelm
NO PLACE LIKE HOME
Solo Show at HilbertRaum
Reuterstr. 31 – 12047 Berlin
29 April – 8 Mai 2016
Opening: Fri 29th April 2016, 6 – 11 pm
NO PLACE LIKE HOME – Clemens Wilhelm’s first solo exhibition in Berlin presents three video works on the connection of mass tourism and mass photography: SIMULACRA takes you on a hyperrealistic trip through a Chinese copy of the world. THE TOURIST mixes the aesthetics of National Geographic, Caspar David Friedrich and Porno through an absurd performance in the vast landscapes of Iceland.
THE MOST PHOTOGRAPHED MAN IN BERLIN shows 1000 Facebook photos which document Wilhelm’s attempt to become a Berlin tourist attraction. If you can see the whole world online, why leave your home and become a tourist?
Additional Events:
ONLY FOR TOURISTS | Video Screening
Saturday 30 April 2016
7.30 – 10 pm
Artists: Daniel Beerstecher, Chen Hangfeng, Katarzyna Gondek, Constantin Hartenstein, Jiang Hongqing, Li Ran, Neozoon, OQ Rizki Resa Utama, Nicolas Rupcich, Clemens Wilhelm
CLEMENS WILHELM | Artist Talk & Video Screening
Friday 6 May 2016
8 – 10 pm
Philipp Gürtler (Qjubes Magazine) in conversation with Clemens Wilhelm and screening of Clemens Wilhelm’s videos PETER IS DEAD and KIKI THE WAR DOG
GREENER ON THE OTHER SIDE | Video Screening
International Video Art Festival • 19th Edition
Saturday 7 May 2016
7.30 – 10 pm
Artists: Trond Ansten, Franz Reimer, Julia Charlotte Richter, Roee Rosen, Thomas Taube, Clemens Wilhelm
HilbertRaum – Reuterstr. 31 – 12047 Berlin
Gallery Opening Times:
Friday 6 – 10 pm
Saturday 2 – 10 pm
Sunday 2 – 7 pm
(other days by appointment only)